Kalandra – mystische Klänge aus dem hohen Norden
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Auf der buchstäblichen anderen Seite der Welt, abseits von Australien, liegt ein Eiland, auf dem sich mehr Schafe als Menschen tummeln. Die Rede ist von Neuseeland. Der überschaubare Teil Ozeaniens, welcher in der Mitte des 18. Jahrhunderts von Captain James Cook entdeckt wurde. Der ursprünglich angesteuert wurde, um ein besseres Britannien zu gründen und Wohlstand für alle Emigrant*innen zu gewährleisten. Heutzutage ist Neuseeland ein Synonym für unberührte Natur und schier grenzenlose Abenteuer. Viel davon geschuldet durch die massive Popularität der Herr der Ringe-Spielfilm-Trilogie. Doch nicht nur das Mystische und Magische steht für die kunterbunte Filmwelt Neuseelands. Auch bitterböse und absurde Splatter-Orgien á la „Braindead“, welchen niemand Geringeres als Peter Jackson persönlich inszenierte, haben ihren kulturellen Platz. Als Hommage an die Klassiker von einst kann der Film Deathgasm von Jason Lei Howden eindeutig betrachtet werden. Nur diesmal mit einem gehörigen Schuss Heavy Metal versehen.
Der Regisseur von Deathgasm bestreitet mit diesem Film sein Regiedebüt. Vorher war er im VFX-Bereich – also dem der visuellen Effekte – bei Wingnut Films tätig. Wingnut Films ist die 2003 gegründete Produktionsfirma von Peter Jackson, wobei Jason Lei Howden an der „Hobbit“-Trilogie mitwirkte.
Mit dem Film erfüllt sich Jason Lei Howden einen Herzenswunsch. Schon lange frönt er dem Heavy Metal-Lebensstil abseits der Filmindustrie Neuseelands. Und Splatter-Komödien mit einem Metal-Narrativ fanden sich reichlich in den 80er-Jahren. Zum Teil webt Howden einige autobiografische Details in die Geschichte mit hinein. Diese stellen eine einzige Huldigung an den Esprit des Heavy Metal der 80er dar.
Die grobe Story von Deathgasm lässt sich wie folgt in seine Einzelheiten herunterbrechen: Der junge Brodie zieht nach einer familiären Tragödie in eine Kleinstadt, in der sein Onkel und seine Tante samt feindseligen Cousin David ihr Dasein fristen. Dieser Teil der Familie ist hoch christlich geprägt und hält von Brodies Liebe zum Heavy Metal herzlich wenig. Das erschwert es ihm, sich heimisch fühlen zu können. Auch abseits der erweiterten Verwandtschaft findet Brodie keinen Zugang. Denn mit seinem typischen Headbanger-Auftreten wird er auf der High School wegen seiner Andersartigkeit gemobbt. Vor allem von seinem Cousin und seinen Schergen, denn die machen sämtlichen Sonderlingen den Schulalltag zur Hölle auf Erden.
Im Mobbing vereint, trifft Brodie auf Dion und Giles. Mit ihnen teilt er die Liebe zum Metal und beschließt prompt, zusammen eine Band zu gründen. Im örtlichen Plattenladen trifft Brodie auf Zakk. Ein mysteriöser, hünenhafter Metalhead mit individueller Lederjacke, gespickt mit Nieten, zu dem Brodie direkt aufblickt und sympathisiert.
Übrigens: Der Plattenladen existiert tatsächlich in New Lynn, einem westlichen Stadtteil von Auckland und heißt, wie auch im Film, Alien Records.
Zakk ist im Gegensatz zu Brodie ein asozialer, lügender und betrügender Soziopath, der gleich darauf als Lead-Gitarrist der Band beitritt. Nach kurzer gemeinsamer Überlegung fällt der Bandname auf Deathgasm. Nachdem Zakk und Brodie eine uralte Partitur aus dem Haus des ehemaligen Rockstars Rikki Daggers entwenden und beginnen, diese mit der Band einzustudieren, beschwören sie ahnungslos eine dämonische Apokalypse über die langweilige Ortschaft herauf. Von nun an befinden sie sich in einem blutgetränkten Wettlauf gegen die Zeit. Einem Wettlauf, um die völlige Vernichtung der menschlichen Spezies noch aufzuhalten.
Deathgasm gelingt der außerordentliche Spagat, eine irrwitzige Splatter-Komödie mit einer sensiblen Geschichte über das Erwachsenwerden und die Selbstfindung zu kombinieren. Hier ist es wohl hilfreich, dass Regisseur Howden einige persönliche Erfahrungen mit einfließen lassen und in Form des Spielfilms verarbeiten konnte. In einer der anfänglichen Mobbing-Szenen wird Dion ein Dungeons & Dragons-Würfel in die Nase gesteckt. Dies ist Jason Lei Howden laut eigenen Angaben selbst angetan worden, als er als Teenager und Metalhead in seinem neuen Zuhause nicht den Anschluss fand, den er sich erhoffte.
Auch der Charakter des Zakk ist laut des Regisseurs auf seinen damaligen besten Freund zurückzuführen. Dieser soll in allen Belangen weitaus extremer als er selbst gewesen sein. Und diese Art von Typ ist ein durchaus reeller Archetyp, wiederzufinden in allen Musikrichtungen. Auf der anderen Seite soll Zakk Heath Mortlock widerspiegeln, der die sogenannte “Schwarze Hymne”, welche im Film dafür verwendet wird, die Dämonen zu beschwören, für den Film komponierte. Und welcher in der neuseeländischen Szene als eine der abgefahrensten, exzentrischsten Figuren gilt, was anhand seiner Band „Skuldom“ leicht nachzuvollziehen ist.
Die emotionale Stütze von Deathgasm wird von der unverhofft aufblühenden Romanze zwischen Brodie und Medina untermauert. Medina ist das beliebteste Mädchen der ansässigen High School und zu Beginn des Films noch mit Brodies Cousin David liiert. Später konvertiert sie mithilfe Brodies zum Metal. Durch eine Reihe von Zufällen lernen die beiden sich kennen und bilden direkt einen visuell urkomischen Kontrast, wenn er in seiner Black Metal-typischen Kostümierung zusammen mit dem generischen Cheerleader-Typ Waffeleis auf einer Parkbank schleckt. Beide Figuren werden von den ehemaligen „Power Rangers“-Darstellern Milo Cawthorne und Kimberly Crossman gespielt, da mehr als die Hälfte der Staffeln der US-Serie in Neuseeland produziert worden sind.
In der Szene auf der Parkbank offenbart Brodie Melinda, dass, wenn er miese Gedanken bekommt, er sich dem Metal zuwendet. Metal lenke ihn zum einen von der tristen Realität ab. Zum anderen würde er sich durch die Aggressivität der Musik darüber bewusst, dass andere Menschen seinen Schmerz ebenso spüren und ihm künstlerisch Ausdruck verleihen. An dieser Stelle in Deathgasm schlägt Jason Lei Howden´s Heavy Metal-Herz ganz hoch. Diese Umschreibung der Gefühlslage sollten andere Menschen innerhalb der Szene nur allzu gut kennen dürfen. Natürlicherweise schließt diese Umschreibung keineswegs andere Genres aus. Sie ist universell applikabel.
Durch einige Missverständnisse gerät die Romanze ins Straucheln und liefert Brodie die nötige Motivation, die Schwarze Hymne vollständig zu spielen. Denn eine Botschaft innerhalb der Partitur bietet Macht und Reichtum jenseits jeder Vorstellungskraft. Ein Angebot, was für jugendliche Außenseiter*innen äußerst verlockend klingen dürfte. Ab diesem Punkt entfaltet sich Deathgasmzu einer diabolischen Gore-Party, die in puncto praktische Effekte mächtig auftrumpft und eine Blut-Show darbietet, welche den Genre-Vorbildern in nichts nachsteht. Dabei wird der augenzwinkernde Humor niemals außer Acht gelassen, dessen neuseeländische Variante ungeheuer trocken und selbstironisch daherkommt. Inmitten der Blut-Geysire muss der Protagonist Brodie schließlich zu sich selbst finden, um der dämonischen Übermacht entgegenzutreten.
Prompt wird die kommende Apokalypse eingeläutet und Deathgasm wird angetrieben durch einen deftigen Soundtrack untermalt. Dieser bedient so gut wie jedes Subgenre des extremen Metals, insbesondere mit einigen Verweisen auf neuseeländische Gruppierungen, die beweisen, dass es im Untergrund auf der anderen Seite der Welt gewaltig köchelt in Sachen Heavy Metal. Im Abspann sieht man sämtliche Bandlogos, die im Soundtrack von Deathgasm zu hören sind. Keine übliche Herangehensweise und ein Testament an die Leidenschaft, die Jason Lei Howden für das Genre entgegenbringt.
Über das Genre des Heavy Metal wird viel Negatives gesagt, doch ein Fakt ist nicht von der Hand zu weisen: Die grenzenlose Solidarität der weltweiten Bewegung. Dieser machte sich Howden in der Produktion von Deathgasm zu Nutze und beschaffte sich Merchandise wie Bandshirts und Poster über global angelegte Spendenaktionen. Dabei stellte auch das namhafte Label Metal Blade Records einige Poster für den Proberaum der Band.
Ansonsten ist Howden´s Werk neben der Musik natürlich auch eine Hommage an die alten Filme von Peter Jackson, die mit einem minimalen Budget und einer gehörigen Portion Kreativität realisiert wurden. Giles trägt ein „Bad Taste“-Shirt über den gesamten Film. Eine visuelle Verbeugung vor dem Erstlingswerk von Jackson. Grundsätzlich besticht Deathgasm durch seine unverfrorene neuseeländische Identität und der damit einhergehenden Komik. Faktoren, von denen schon der junge Jackson in seinen frühen Werken profitieren konnte.
Die Fackel wird symbolisch weitergereicht und Jason Lei Howden zelebriert die Heavy Metal-Adoleszenz in vollen Zügen. Mit einigen klaren Verweisen auf die „Evil Dead“-Filme, welche das Horrorgenre innerhalb der 80er grundsätzlich verändern sollten. Manche Kameraführungen für Deathgasm wurden dazu eins zu eins übernommen. Dennoch besticht der Film durch eine klare eigene Identität und wartet mit einigen ziemlich kreativen Ideen der Dämonen-Tötung auf. So kann er für noch nicht einmal 90 Minuten komplett unterhalten und dazu noch mit einem Killer-Soundtrack aufwarten. Kleiner Fun Fact am Rande: Der Film soll sich durch cleveres Schneiden bei Stummschaltung mit dem Live-Video „Live After Death“ von „Iron Maiden“ perfekt synchronisieren. Die Filmemacher gaben diesbezüglich allerdings keinen konkreten Kommentar ab.
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Ursprünglich veröffentlicht am 4. Oktober 2022 aktualisiert am 9. März 2023
Fokusthema: Bo Burnham: Inside – Eine dokumentarische Musikkomödie für unsere verwirrte Zeit