Kalandra – mystische Klänge aus dem hohen Norden
Neuer Beitrag
Seit der Veröffentlichung seines gleichnamigen Debutalbums hat der Singer-, Songwriter und Producer James Blake im Jahr 2011 die Musikwelt klanglich revolutioniert. Sein eigenwilliger, von experimentellen Klangeffekten durchdrungener, Genregrenzen aufbrechender Sound hat große wie kleine Künstler*innen und Produktionsstudios weltweit beeinflusst.
Zehn Jahre später, im Herbst 2021, veröffentlichte James Blake sein mittlerweile fünftes Album mit dem Titel "Friends That Break Your Heart". In diesem Artikel werden wir uns das besagte Album genauer unter die Lupe nehmen. Es geht um die Auseinandersetzung mit Selbstzweifeln, interpersonellen Abhängigkeiten und Loslösungsprozessen bis hin zur Entdeckung einer neuen Lebenshaltung.
Den Einstieg ins Album macht James Blake humorvollerweise mit einem Titel namens "Famous Last Words". In diesem beschreibt er eine Situation, in der das lyrische Ich eine dringende und ihm zugleich zutiefst unangenehme Notwendigkeit verspürt: Sich endlich aus einer längst gescheiterten Beziehung lösen zu müssen – dabei jedoch den entscheidenden Schritt noch nicht gegangen zu sein.
Eigene Unsicherheiten, eine tiefe Bestürzung darüber, wie sich die andere Person verhalten hat und Verwunderung über die eigene Handlungsunfähigkeit prägen die Lyrics des Tracks. Musikalisch dominiert der Gesang, die für Blakesche Verhältnisse minimalistisch eingesetzten Synths und Streicher untermalen das große Ganze. Thematisch leitet der Song in den nachfolgenden über und macht Andeutungen auf, die sich auch im weiteren Laufe des Albums noch konkretisieren werden.
Im zweiten Track greift Blake das Thema des ersten Songs auf und wird noch etwas konkreter in seinen Äußerungen:
So if you loved me so much
Why'd you go? (Why'd you go?)
Keep yourself back
Keep on lying, oh
I can only be what I am
Es geht um die verzweifelte Verstellung der eigenen Persönlichkeit bis hin zur Selbstaufgabe, mit dem Hintergrund, es einer anderen Person ständig recht machen zu wollen. Und auch die Erkenntnis, dass dies nichts nützt, ist in "I can only be what I am" enthalten. Doch – wie so häufig in solchen Situationen – mischen sich die eigenen Unzurechnungsfähigkeiten mit Anschuldigungen an das Gegenüber.
We both swam out to sea
You lost me willingly
But that was yesterday (That was yesterday)
You knew it would get dark
You made sure I would need you in every way
Die Rede ist von erzeugten Abhängigkeiten und einem Gefühl, von der anderen Person im Stich gelassen worden zu sein.
In "Coming Back" bekommt man einen tieferen Eindruck der beiden Positionen, die im vorigen Song angedeutet wurden – wobei nun auch die Gegenseite mit der Stimme von SZA zu hören ist. In einem Ausschnitt ihres Parts ist unter anderem Folgendes zu hören:
Your first mistake was wanting me when you know I wasn't ready
You put that shit down heavy, couldn't let you regret me
Remember lies around the time we spent when you first met me
I put my shit down heavy, couldn't let you forget me, mmh (no, no)
Die zuvor nur einseitige Beschreibung der Beziehung der beiden gewinnt nun Tiefe und verdeutlicht, dass Beziehungskonflikte meist nicht nur von einer Person zu verantworten sind. Dadurch wird in dem Track auch deutlich, wie schnell die eigene "Brille", durch die man in emotional aufgeladenen Situationen schaut, Unangenehmes unsichtbar macht und dadurch die Realität verfälscht.
Der Track "Funeral" spielt mit dem Bild, auf der eigenen Beerdigung lebendig anwesend zu sein. Klanglich ist er – für Blakesche Verhältnisse – sehr minimalistisch gehalten, weswegen die Lyrics mehr in den Vordergrund rücken. Und diese handeln von nicht mehr oder weniger als Leben, Tod und der Frage nach dem Sinn des ganzen Spektakels.
I hold my ear to a shell
I hear somethin' that no one can sell […]
And I know this feeling too well (Too well)
Of being alive at your own funeral
Goin', "Don't give up on me" […|
Please, I'll be the best I can be
Auch wenn offen bleibt, weswegen es zu diesen Gefühlen kommt, so liegt der Schluss nahe, dass es etwas mit James Blakes künstlerischem Erfolg zu tun hat. Dass Menschen ihn nicht länger als Künstler empfinden, der sich stetig weiterentwickelt, sondern wohlmöglich eher als Größe abschreiben, die es schon bis nach ganz oben geschafft hat.
Dies resultiert in dem für den Song zentralen Gefühl, nicht mehr wahrgenommen zu werden und sich als isoliert oder danebenstehend zu empfinden. Auch greift "Funeral" zentrale Fragen nach dem eigenen Wert auf und thematisiert eigene Ansprüche an sich selbst und sein Bedürfnis, weiterhin wahrgenommen zu werden – so beispielsweise hier:
I wanna be heard if I can't be seen
Für den fünften Song des Albums hat sich Blake mit den beiden Rappern JID und SwaVay zusammengetan. Klanglich ist auffällig, dass die einzelnen Stimmen teilweise ineinander übergehen und miteinander verschwimmen, weil Blake insbesondere bei den Partwechseln mit Stimmverzerrern gearbeitet hat. Auch ist der Song durch mehrere Tempowechsel und Klangpausen dynamisch und vom Einsatz zusätzlicher, vielfältiger Soundeffekte geprägt.
I've been losing all of my mind
They tell me I'm too hard to find
Tell me, am I? […]
Body's so stooped, you'd think that I'd been frozen […]
By my wall I, I feel it all
(You'd think that I'd been frozen)
Yes, I won't lie, just come closer
(You'd think that I'd been frozen)
Die Lyrics führen das Thema des vorangegangenen Songs "Funeral" fort, indem sich Blake damit auseinandersetzt, dass andere ihn als wie gefroren, unnahbar und von der Bildfläche verschwunden wahrnehmen. Zugleich unterstreicht er mit "By my wall I, I feel it all", dass ihn diese Abschottung trifft und auch nicht vor Verletzlichkeiten schützt. Die allgemeine Stimmung des Songs kann als eher düster, umfassend und ineinander verwoben beschrieben werden.
Yes, I won't lie
Just come closer
Es wirkt so, als spiegele Blake in "Frozen" die manchmal sehr chaotische Komplexität des Lebens wider und fordere seine Zuhörer*innen zugleich auf, sich damit auseinanderzusetzen – um sich am Ende selbst besser verstehen zu können.
"I'm So Blessed Your Mine" ist ein inhaltlich loseres, weniger greifbares Stück auf Blakes Album, dass dennoch musikalisch durch gut strukturierte Parts überzeugt. Diese fügen sich aus einem zart gesungenen Intro, außerordentlichen "Drops" (eigentlich bräuchte man für James Blakes Musik ein eigenes Vokabular), schön verschichteten Vocals und einem repetetiven Sampleeinsatz zu einem Ganzen zusammen.
Besonders interessant ist der Einsatz der Geigen, die gegen Ende des Stückes zu hören sind. Jaulend, leicht quietschend und dennoch harmonisch steigen sie die Tonhöhen hinab und erinnern ein Wenig an die berühmte Duschszene des Filmklassikers "Psycho" von Alfred Hitchcock. Inhaltlich bleibt das Stück offen und kurzlebig, und erinnert so auch an den rapiden Auf- und Abbau mancher Beziehungen, was im nachfolgenden Track thematisch weiter aufgegriffen wird.
It was built, in a day
So it fell, in a day […]
And it's okay, I know I'll be replaced
A bitter aftertaste, but it's not that bad
It's okay, there's nothing to explain
Only yesterday, you weren't so sad
"Foot Forward" handelt von potentiell schnelllebigen Beziehungen und der Erkenntnis, die eigene Position bald durch jemand anderes ersetzt zu wissen. Zugleich ist die Haltung in diesem Track nun nicht mehr so vorwurfsvoll wie zu Beginn des Albums, sondern hauptsächlich von Akzeptanz geprägt.
Es hat wohl so sein sollen und doch: Auch die Enttäuschung darüber, selbst nicht die auserwählte Person gewesen zu sein – sondern nur ein Teil auf dem Weg zu jemand anderem hin – wird deutlich. Verletzung und Akzeptanz wechseln sich so auch im Chorus repetitiv mit "who's next" und "and it's okay" ab.
I heard you can show love
It's just not come out for me
I heard you had a sweet way
That I have yet to see
I wish you'd show me
Auch in diesem Lied greift James Blake das Thema des vorigen auf, um es weiter zu vertiefen. Abermals wird die Enttäuschung darüber geschildert, selbst nicht die auserwählte Person für jemand anderen gewesen zu sein. Nun wird die Erzählung um den Aspekt erweitert, dass ein ehemaliger Partner bzw. eine ehemalige Partnerin mit jemand anderem glücklicher ist – und die anscheinend stimmigere, neue Beziehung dazu führt, dass dieser Mensch sein Potential nun vollständig entfalten kann. Der sich im Refrain wiederholende Vers "I wish you'd show me" verdeutlicht diesen Kontrast.
In der Bridge, die von Monica Martin und James Blake gemeinsam gesungen wird, wird deutlich, dass dieser Wunsch und die Enttäuschung seiner Nicht-Erfüllbarkeit beidseitig empfunden werden:
Cause there was nothing stopping you before
And nothing I'd have loved more
Than seeing you at your best
And I waited 'til me eyеs were sore
'Causе there's nothing I'd have wanted more
Than to see you at your best
Mit "Say What You Will" leitet James ein letztes großes Kapitel auf dem Album ein: Die Rückbesinnung auf sich selbst. In diesem Track geht um das sicherlich vielen Menschen wohlvertraute Gefühl, im Vergleich mit Anderen schlechter dazustehen. Im dazugehörigen Musikvideo stellt James Blake dies in Zusammenarbeit mit dem Musiker und Billie Eilishs großem Bruder Finneas sehr überspitzt und humoristisch dar – Finneas wird als wesentlich erfolgreicher, sportlicher und attraktiver dargestellt, worunter Blake permanent leidet.
Den Schlussstrich zieht James Blake mit einem lang gesungenen, sehr hohen Ton und der vielfachen Widerholung des Songtitels "Say What You Will". Dabei geht es darum, sich nicht am Erfolg anderer zu messen, seinen eigenen Wert vom Urteil anderer abhängig zu machen und Frieden mit sich selbst zu finden. Akzeptanz und Zufriedenheit weisen den Weg aus der Unglücksfalle der ständigen eigen- und fremdverursachten Vergleiche. Dies wird zum Ende des Musikvideos auch noch mit einem Zitat unterstrichen:
Comparison is the thief of joy.
Theodore Roosevelt
"Lost Angels Nights" ist ein ruhiger, harmonischer, überragend produzierter Song auf dem Album. Der lyrische Inhalt ist mehrdeutig und kann in zwei verschiedene Lesarten heruntergebrochen werden: Einerseits als Reflexion der negativen Seiten von Blakes bisherigen künstlerischen Erfolg, andererseits auch auch als Reflexion einer für ihn schädlichen Beziehung. Auch eine Mischform beider Interpretationsmöglichkeiten, in der ersteres personifiziert wird , ist denkbar.
And so you slept all day
The world doesn't wait
And it kept on going, it kept on going around us
We had so much going for us
And I was losing my place
And in my place, a thousand imitations rose up
And I hope it's not too late to make up for all those
Gleichzeitig hat der Track etwas recht versöhnliches und akzeptierendes, was jedoch nicht für die Textstelle von "in my place" gilt, die durch dissonante, signalartige Töne oder wütende Ausrufe unterstrichen wird. Auch bei der Textstellen "imitations" zeigt sich wieder einmal James Blakes Talent, gesungenes auch klanglich umzusetzen und dessen Bedeutung somit zu vertiefen.
Im "Favorite Worst Cast", einem Musikpodcast von Eric Blache und Jan Klefisch, wird der Song unter anderem auch als "wärmste Decke der Welt" beschrieben. Durchaus stimmig, wenn man bedenkt, dass dieser Song mit negativen Erfahrungen überwiegend akzeptierend abschließt und dies auch klanglich umsetzt. Insgesamt ein sehr interessanter Song, über den sicherlich noch nicht alles gesagt ist.
Der Titeltracks des Albums ist ein sanfter, minimalistisch produzierter Song, auf dem sich James Blake verletzlich zeigt. Mit zarter, leicht brüchiger und dennoch bestimmter Stimme thematisiert er den Schmerz, der mit dem Bruch tiefverwurzelter Freundschaften einhergehen kann:
And as many loves that have crossed my path
In the end, it was friends (3x)
It was friends who broke my heart
[…] only love can break you
More the more you care
And all, and all in love is fair
But its not fair.
Zugleich räumt Blake in den letzten beiden Zeilen mit allgemeingültig daher gesagten Ratschlägen auf, die sich als nicht zutreffend und hoffnungslos herausgestellt haben. Auch seine eigenen Bemühungen, sich trotz seiner eigentlichen, wohlmöglich eher verschlossenen Natur offen und verletzlich zu zeigen, werden deutlich:
And I've pushed myself to be vulnerable
And then slept with one eye wide
All that pain and nothing gained in the end
In the end it was friends
it was friends who broke my heart
So wird der Eindruck erweckt, als ginge es auch in diesem Song darum, sich auf sich selbst zu besinnen und dem zu vertrauen, was sich für einen persönlich richtig anfühlt. Zugleich liegt auch nicht alles innerhalb der eigenen Kontrolle, wie hier deutlich wird:
Well, fair dues, nobody prepares you
And nobody's prepared, nobody's prepared
Wieder einmal gelingt es James Blake, die vielschichtigen Schwierigkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen und die Suche nach einem eigenen Lösungsweg treffend darzustellen. Der Track kann gewissermaßen auch als Knotenpunkt verstanden werden, an dem die zuvor dargestellten, losen Enden der bisherigen Songs wieder zusammenfinden.
Den Schlusstrack des Albums stellt "If I'm Insecure" dar, der sich mit zwei gegensätzlichen, emotionalen Zuständen befasst: Sicherheit und Unsicherheit, oder auch Vertrauen und Zweifel. Letztere werden in den Strophen in Form von Fragen aufgegriffen, die beispielsweise so lauten:
If I'm the only child
How do I feel like the black sheep?[…]
If I'm loved unconditionally
How's this condition so unique, so unique?
Zugleich ist der Inhalt in der Bridge von einem Zustand des Vertrauens und Zulassens geprägt. Die Beziehung, auf die James' Gesang verweist, wird als mentaler Ruhepol und Ort der Hingabe empfunden, in der alle zweifelnden Gedanken zur Ruhe kommen können:
When you're with me
I feel like I'm embracing it
And when you cry (When you cry)
I know that you've been saving me (from me)
Im Chorus wird deutlich, dass potentiell alles in Frage gestellt werden kann, wobei es auch darum geht – so meine Interpretation – Unsicherheiten zu überwinden und für sich Frieden mit dem Unperfekten zu schließen. Musikalisch wirkt das Lied, den Widersprüchen zum Trotz, vereinend, harmonisch, getragen und ist in Blake'scher Manier mit großer Liebe zum Detail ausgestaltet. Mit "If I'm Insecure" findet das Album zu einem runden, stimmigen, abschließenden und zugleich zukunftsweisenden Ende. In einem Apple Music Interview beschrieb James Blake seinen Song wie folgt:
"I like to go out on something either where it’s all harmonies or it just feels huge. This is the latter. It’s an apocalyptic love song—the world is ending, but you’re in love, so it’s all right. Which maybe captures where we are as a society in 2021, so perhaps I’ll come to think of this record as one big externalisation of my COVID experience, but that wasn’t the original intention. I make a load of music and then eventually realise, ‘Oh, yes, roughly, it was about this.’ "
Man muss von einem überragend hohen Niveau des Albums sprechen. Es verfolgt einen thematisch stringenten, roten Faden und nimmt sich ausreichend Zeit, um tiefgreifend in das allgemeine Thema menschlicher Beziehungsschwierigkeiten und seine Facetten – wie Verletzlichkeit, Veränderung, Selbstzweifel und Akzeptanz – einzutauchen. Mutig werden diese aus unterschiedlichen Perspektiven aufgegriffen, beleuchtet und zudem stetig weiterentwickelt – so ist von Albumanfang bis Ende ein deutlicher Entwicklungsbogen und überaus organischer Reflexionsfortschritt zu erkennen.
Musikalisch ist "Friends That Break Your Heart" ebenfalls sehr durchdacht und akribisch ausgefeilt. James Blakes Gesang steht, mehr als in anderen Alben, im Vordergrund. Sowohl inhaltlich aus auch thematisch versteht es Blake, sich mithilfe seines Klaviers und zahlreicher, umfassender Soundeffekte auszudrücken – in einer Art und Weise, die sonst bei kaum anderen Künstler*innen zu finden ist.
Wer James Blake und sein neustes Album live auf einem Konzert erleben will, kann sich auf seine europaweite "Friends That Break Your Heart – Tour" freuen. Anfang Mai 2022 tritt er in Berlin und Frankfurt am Main auf. Tickets findet ihr unter anderem hier. Reisefreudige können ihn zudem in der Schweiz, den Niederlanden, in Polen, Frankreich, Belgien und an vielen anderen Orten sehen. Sämtliche Tourdaten bekommt ihr hier.
Du bist selbst Musiker*in und hast Bock, dich mit anderen deiner Art zu vernetzen? Dann schau doch mal hier auf mukken vorbei. Bei uns kannst du Musikerinnen aus deiner Umgebung entdecken und kennenlernen.
Falls du dich als Musiker*in oder Sänger*in weiterentwickeln möchtest, aber mit Kreativitätsblockaden wie beispielsweise Selbstzweifeln zu kämpfen hast, kannst du dich außerdem hier über mein Coachingangebot für Künstler*innen und Kreativschaffende informieren.
Ursprünglich veröffentlicht am 12. April 2022 aktualisiert am 7. März 2023
Fokusthema: Der Schmyt - Underdog, Newcomer und Ausnahmetalent