Kalandra – mystische Klänge aus dem hohen Norden
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Der Geruch von Weihrauch umhüllt den gesamten Keller der Kasseler Goldgrube. Denn: Eine Zeremonie zu Ehren der allgegenwärtigen Präsenz des Todes wird hier vollzogen. Die Goldgrube ist komplett ausverkauft und platzt förmlich aus allen Nähten. Auf der Bühne sind zwei Tischaltare aufgestellt, die von menschlichen Gebeinen und Schädeln, umringt von Kerzen verziert sind. Darunter befinden sich die Weihrauchschalen. Das Endresultat ist eine rituelle schwarze Messe, wie sie nur das Genre des Black Metal in einem Live-Setting generieren kann. Das Ambiente lädt zum dritten Tag der Europa-Tournee von den isländischen Meistern des modernen Black Metal ein: Misþyrming. Wer also wissen will, wie es ist, Misþyrming live zu erleben, sollte unbedingt weiterlesen.
Für die erste Tour im neuen Jahr hat sich die Band tatkräftige Unterstützung an Bord geholt: Kringa, Ritual Death und Nubivagant. Das Quadrivium des manifestierten Chaos in Musikform bietet einen Abend voller Euphorie, Manie und zum Teilen auch handfester Gewalt. Kaputte Musik inmitten einer kaputten Stadt. Denn so wird das nordhessische Kassel vielerorts wahrgenommen, da es gepflastert von Junkies und gescheiterten Existenzen zu sein scheint.
Die Band Nubivagant, was sich in „durch die Wolken gleitend“ übersetzen lässt, beginnen das pechschwarze Prozedere. Die Zwei-Personen-Kombo aus der Toskana beschwören eine stilvolle Trance des Todes herauf. Zum bereits imposanten Bühnenbild gesellen sich zwei mystisch und psychedelisch angehauchte Banner an den beiden Enden der Bühne. Auf ihnen prangern erleuchtete, strahlende Augen, welche symmetrische Strahlen aussenden, was als Sehen und nicht nur Schauen gelesen werden kann. Viele Leute schauen lethargisch in die Welt hinaus, ohne deren magische Qualitäten wirklich zu sehen, welche permanent ausgesendet werden.
Der Sound ist direkt zu Beginn fast perfekt abgemischt, es gibt keinerlei Feedbacks oder Übersteuerungen. Glücklicherweise wird über den gesamten Verlauf des Abends kein Abfall der Klangqualität zu vermessen sein. Kommen wir nun zur tatsächlichen Musik von Nubivagant. Diese ist definiert durch räudige Riffs und rumpelnde Drums, welche in disharmonischer Synchronizität verschmelzen. Drumfills und gekonntes Timing an den Crashes und Rides untermauern die spirituelle Ekstase, welche Nubivagant live leben und atmen.
Die Gitarre erzeugt einen atmosphärisch dichten Klangteppich und ist im direkten Vergleich zum Schlagzeug und Gesang bewusst auditiv im Hintergrund agierend, um somit einen dunklen Sog zu kreieren. Beide anderen Instrumente dominieren den Klang von Nubivagant, allen voran der Gesang des Frontmannes, welcher das Highlight der musikalischen Performance ausmacht. Orthodoxe Chorgesänge lassen grüßen, denn das Hauptaugenmerk liegt auf klaren, spirituell besetzten Gesang. Dabei werden die heiseren und verzweifelten Kreischer lediglich sporadisch eingesetzt. Während die Drums präzise das inszenierte Ritual untermauern, hebt der Klargesang die Performance in höhere Sphären und verwandelt sie in eine Litanei der Negativität und letztendlich in eine Trance des Todes.
Sobald sich der wortwörtliche Rauch in Luft aufgelöst hat, bleibt kaum Zeit, das Vergangene in Ruhe zu verarbeiten. Als Nächstes erscheint das neueste Projekt Ritual Death vom finsteren Luctus, der in Dutzenden Black Metal-Projekten mitwirkt. Die Band stammt, wie er selbst, aus Trondheim, dem aktuellen Hotspot für zeitgenössischen norwegischen Black Metal. Dieser sogenannte Nidrosian Black Metal lässt Norwegen erneut inmitten der Moderne als Kraft auftreten, mit der gerechnet werden muss.
Das Auftreten des Frontmannes vieler Bands lässt einem den Atem stocken und das Blut gefrieren. Völlig verhüllt in einer langen, schwarzen Robe marschiert er mit der Gitarre in der Hand einschüchternd über die Bühne. Und als wenn das nicht genug wäre, prangert ein echter menschlicher Totenschädel dort, wo sein Antlitz sein sollte. Das Mikrofon ist innerhalb des Gewandes versteckt. Diese Spielerei sorgt zunächst für kollektives Unbehagen, denn die dämonische Stimme scheint entkörpert durch das Kellergewölbe zu hallen.
Die dazugehörige Musik von Ritual Death ist nicht minder gefährlich. Pure Aggressivität und Lebenshass strömen von allen Instrumenten. Denn hier wird keineswegs mit der Wimper gezuckt. Martialische Rhythmen paaren sich mit primitiven Riffs, die urzeitliche Instinkte inmitten der Zuschauerschar ansprechen. Nur ein paar Minuten ihres knapp 30-minütigen Sets sind verstrichen und schon gibt es handfeste Prügeleien im Publikum, welche jedoch binnen kürzester Zeit erfolgreich geschlichtet werden konnten.
Dem Mastermind von Ritual Death wird seine initiierte Gewalt sicherlich gefallen haben, so ist er selbst kein unbeschriebenes Blatt, was körperliche Auseinandersetzungen während Konzerten seiner Bands anbelangt. Die feindselige Grundstimmung entfesselt einen Rauschzustand des Publikums und fesselt von der ersten grimmigen Note bis hin zum metaphorischen Fall des Vorhanges.
Die dritte Band im Bunde, Kringa, besteht aus vier österreichischen Alpenbuben, welche die gesamte Bühne einnehmen. Der Name der Band leitet sich vom kroatischen Dorf desselben Namens in der Region Istria ab. Dort lebte die wohl einzig reale Person, Jure Grando, die als Vampir bezeichnet wurde. Dementsprechend ist das Corpsepaint von Kringa dezent aufgetragen, welches sie wie wandelnde Vampire erscheinen lässt. Was innerhalb der nächsten Dreiviertelstunde folgt, ist polternder, psychotischer Black Metal mit infektiöser Manie. Jedes einzelne Bandmitglied bekommt seine berechtigte Aufmerksamkeit, niemand überschattet die anderen, sondern sie (dis-)harmonieren gemeinsam, wie es eine Band tun sollte.
Insbesondere der Bass vermag wahrlich zu scheinen, denn er sticht deutlich durch die Jazz beeinflussten Bassläufe hervor und ist ein tragendes Element des Sounds. Das Schlagzeug peitscht und prügelt die tobende Meute an den Rand des kollektiven Nervenzusammenbruches, während der Lead-Gitarrist und der Bassist sich die Gesangspflicht teilen. Kringa´s Gesang variiert zwischen ohrenbetäubendem Kreischen und opernhaften Einlagen so natürlich, wie es widersprüchlich ist.
Die Musik von Kringa weist schizophrene Songstrukturen auf, die zwischen wunderschön und abgrundtief hässlich wechseln. Ein Zwischenspiel aus Harmonie und Dissonanz. Dieses kann repräsentativ auf das Leben an sich angewendet werden. Denn das beste Leben lässt sich in der Gewissheit des sicheren Todes leben. Der Gitarrensound ist saftig, fett und fies und liegt im Einklang mit dem Thema des Todes und der Vergänglichkeit.
Hinzu kommt die gewalttätige und unberechenbare Bühnenshow, wofür Kringa berüchtigt sind. Der Sänger und Hauptgitarrist schwankt und torkelt schier unkontrolliert und völlig außer Rand und Band über die Bühne, sodass man nie sicher sein kann, ob alles gut gehen wird. Hinzu kommt der wahnsinnige Bassist, der sich mitten im Live-Wahn anfängt, die Kopfhaare auszureißen. Rasend schnelle Passagen beschwören eine ansteckende Ekstase hervor, nur um binnen kürzester Zeit einer Elegie der schweren Melancholie zu weichen.
Die Zeremonie des Todes nähert sich ihrem Ende. Die stetig wachsende Progression der dargebotenen Musik findet ihren fulminanten Abschluss mit Misþyrming live auf der Bühne. Über der Hüfte bekleidet in adretten Hemden, die von Blut und Schmutz durchtränkt sind und untenrum militärisch anmutende Hosen mit entsprechenden Stiefeln präsentieren sich die vier Isländer im klassischen Live-Look. Musikalisch wird epochaler, triumphaler Black Metal gespielt, welcher die besten Elemente des Genres in sich vereint. Rasant, melancholisch, zum Teil hoffnungsvoll, aber zugleich bitterböse, das ist die Essenz von Misþyrming.
Die Saitenfraktion übernimmt den Gesang, der düster und kraftvoll aus den drei Kehlen erklingt. Alle drei Frontmänner animieren durch ausdrucksstarke Gesten das Publikum kontinuierlich. Der neue Schlagzeuger Magnús Skúlason bringt eine frische Prise technische Finesse auf den Tisch, welche die Band, ganz besonders live, auf ungeahnte Klangwelten emporhebt. Allen voran bedient er sich äußerst geschmeidigen und akzentuierten Blastbeats, welche eindrucksvoll unter Beweis stellen, dass eine Menge Abwechslung bei diesen Beats stattfinden kann. Beide Gitarren samt Bass bilden nach wie vor eine klangliche Symbiose der kultivierten Negativität.
Tatsächlich klingen Misþyrming live völlig anders als auf den aufgenommenen Alben. Manchen Fans gefällt dieser enorme Unterschied nicht. Doch andere (den Autor eingeschlossen) erfreuen sich immens an diesen Andersartigkeiten. Album zu Album entwickelt sich der Sound von Misþyrming drastisch weiter und live gilt dasselbe Kredo. Mastermind D.G. hat mit seiner souveränen Aura die Menge fest im Griff und missbraucht die Ohren der Hörerschaft gewohnt gekonnt.
Das Niveau der dargebotenen Musik ist absolut königlich und die musikalische Qualität findet mit der finalen Band ihren krönenden Abschluss. Alles bisherige Material der bestehenden Diskografie wird in dieser Nacht im Zeichen der Dunkelheit auf einem pechschwarzen Tablett serviert. Eine Handvoll neuer Songs der jüngst erschienenen Platte werden zum ersten Mal auf dieser Tour zum Besten gegeben und demonstrieren, dass Misþyrming zu der Elite der gesamten Musikbewegung gehören. Mit Ausnahme einiger an das Publikum gerichteten sporadischer Anfeuerungen seitens D.G.´s verzichten sämtliche Akteure auf überflüssige Ansagen, da die Musik für sich selbst sprechen soll. Ein kurzes, bündiges Fazit des finalen Aktes der okkulten Zeremonie wäre: Bildhübsch und brachial zur selben Zeit!
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Ursprünglich veröffentlicht am 4. März 2023 aktualisiert am 8. März 2023