Kalandra – mystische Klänge aus dem hohen Norden
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„Rock ist tot!“ Eine Aussage, die wohl jede Generation in den letzten 40 Jahren irgendwann mal gehört hat – nur um dann immer wieder eines Besseren belehrt zu werden. Trotzdem gibt es momentan erschreckend viele Argumente, die diese These unterstreichen könnten. Rock Festivals gehen die Headliner aus, wodurch sich auf den großen jedes Jahr dieselben Schwergewichte wie Muse, Green Day (Rock Am Ring 22), The Killers und Kings of Leon (Hurricane 22) mit den Foo Fighters, Billy Talent und anderen Bands dieser Kragenweite die Klinke in die Hand drücken. Was diese Bands eint, ist, dass sie schon vor 15 Jahren den größten Schriftzug auf den Festivalshirts und Postern hatten. Damals allerdings, weil sie neu und innovativ waren und dem Genre mit ihrem ganz eigenen Sound ein neues und modernes Gewand gegeben haben. Schaltete man das Radio ein, waren alle diese Bands in den Playlisten vertreten. Und die Gitarre immer noch eins der populärsten Instrumente des Mainstreams. Doch gibt es moderne Rockmusik überhaupt noch?
Wenn man sich die diesjährigen Grammy-Nominierungen für das beste Rock Album anschaut, reibt man sich verwundert die Augen und ist überrascht, dass es – neben der inzwischen fast obligatorischen Nominierung für das neuste Werk der Foo Fighters – AC/DC überhaupt noch gibt. Mit Chris Cornell ist einer der Nominierten nicht mehr am Leben. Und Paul McCartney hat sich zweifelsohne jedes Denkmal, das man ihm noch setzen wird, verdient (genauso wie die anderen Nominierten natürlich auch). Aber es können ja nicht schon wieder die gleichen Leute wie in den letzten Jahrzehnten die entscheidenden Impulse setzen, die in der Musik mit einem Schlag alles auf den Kopf stellen. Die einzig junge und neue Band ist das Phänomen Black Pumas um den genialen Sänger Eric Burton (nein, nicht Eric Burdon). Doch braucht man hier schon eine Menge Fantasie, um diese Band wirklich dem Genre zuzuordnen. Gerade wenn man es unter Gesichtspunkten der modernen Rockmusik sieht.
Für die These, dass Rock nicht mehr gehört wird, spricht eine Analyse von TheData Face aus dem Jahr 2016. In dieser wurde rausgefunden, dass der Anteil von Rock Songs in den Billboard Charts, der seinen Peak 1984 mit 60 Prozent hatte, bis 2016 auf 1,4 Prozent abgesunken ist.
Seit Machine Gun Kelly vom Hip Hop- ins Pop/Highschool Punk-Lager gewechselt ist, erlebt immerhin dieses Genre eine Renaissance. Doch nur, weil da im Gegensatz zu den Größen der 2000er (Good Charlotte, Sum41 etc.) ab und zu mal elektronische Elemente aus Trap und Hip Hop zu hören sind, Autotune auf den Stimmen und man auch in der Rhythmik der Melodien auf jeden Fall den Einfluss von Rap und Trap hören kann, ist das im Grunde genommen doch noch dieselbe Suppe wie vor 15 Jahren. Und die schmeckt trotz ein paar neuer Zutaten inzwischen unglaublich langweilig.
Das sind alles Argumente für die These, dass Rock nur noch ein sich selbst zitierendes Genre ist. Ein Genre mit alten Held*innen, die ihre eigenen Werke solange wiederkäuen, bis nichts mehr als eine verwässerte Version vom innovativen Glanz alter Tage da ist. Argumente dafür, dass die Gitarre längst durch Laptops und Sample Pads ersetzt wurde und die Zeit, in der es so etwas wie moderne Rockmusik gab, vorbei ist. Doch darf man hier einige Punkte nicht außer Acht lassen:
Grundsätzlich gab es zu Trends in der Musikgeschichte schon immer Gegenbewegungen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mal ein anderes Genre als Rock populärer ist und die Jugendkultur für sich vereinnahmt. Doch wird sich auch der jetzige Zeitgeist wieder ändern. Durch die Entwicklung der letzten Jahre wird die Innovation im Rock zwangsläufig vorangetrieben. Denn Musik ist zum Glück doch deutlich mehr als einfach nur ein Markt, der analysiert werden will. Je größer ein Genre (oder auch eine Unterart des Genres) ist, desto mehr Künstler*innen zieht es an. Diese wollen auf der Welle mit surfen und vermeintliche Erfolgsrezepte kopieren. Das fördert nicht unbedingt den innovativen Geist. Und es sorgt automatisch dafür, dass in anderen Genres mehr Platz für Innovationen entsteht. Denn der Versuch, einen Markt zu bedienen, ist hier nicht mehr so verlockend.
Das alles führt zu der Frage: Gibt es modernen Rock noch? Hat das Konzept Band überhaupt noch Bestand? Und wenn ja, wer sind diese Acts, die sich einem seit Jahren tot-geredetem Genre verschrieben haben? Wer schafft es, eine moderne Version einer Musikrichtung zu schaffen, die sich – wie wir jedes Jahr auf den großen Festivals sehen – einer großen Anhängerschaft erfreut. Eine Anhängerschafft, die danach lechzt, mal wieder überrascht zu werden. Hier sind ein paar Beispiele für Acts, die dem Genre momentan wieder Leben einhauchen:
Der gebürtige und überzeugte New Yorker aka Don Rocco ist seit 2018 als Solo-Künstler unterwegs. Seitdem hat er drei EPs veröffentlicht. Ende 2021 kam das Debütalbum „A Real Good Person in a Real Bad Place“ heraus. Seine Einflüsse reichen von Rock´n´Roll über Alternative Rock bis hin zu Hip Hop, Pop und Drum´n´Bass. Er scheut sich weder vor poppigen Melodien noch vor völlig überdrehten Gitarrenwänden. Während auf den ersten beiden EPs der innovative Geist dieses Künstlers noch nicht vorbehaltlos zu erkennen ist, versteht man spätestens seit der grandiosen EP „This is Our Life“, welches Potenzial hier schlummert.
Erstes Highlight der EP ist der Titeltrack „This is Our Life“. Dieser bescherte Des Rocs auch die erste Chartplatzierung in den USA. Auf die Stadiontauglichkeit des Refrains wäre wohl auch Matt Bellamy von Muse völlig zurecht sehr stolz. Dessen Einfluss hört man in „Des Rocs“ Version von modernem Rock (`n Roll) immer wieder raus.
Ein weiteres Highlight dieser EP ist der dritte Song „Nothing Personal“. Hier werden Stilistiken so wild gemixt, dass man erst einmal gar nicht fassen kann, wie das überhaupt funktioniert. Angefangen mit einer leicht „verbogenen“ Akustik Gitarre im Intro ist schon der Einstieg der gesampelten Drums und die Melodie der Strophe die erste Überraschung. Völlig problemlos geht es aus der sehr poppigen Strophe in einen stampfenden Refrain. Hier flechtet er das Klischee der Viertel- Kicks wunderbar in diese Mischung aus Rock, Blues, Pop und Drum´n`Bass ein.
Sowohl vom Songwriting als auch von der Produktion wird hier alles durcheinander geworfen und kommt trotzdem wie aus einem Guss daher. So ist man beeindruckt, mit welcher Leichtigkeit Des Rocs Grenzen überschreitet und diese verschwimmen lässt. Noch extremer wird diese aberwitzige Mischung verschiedener Stile auf dem Debütalbum „A Real Good Person in A Real Bad Place“. Hier werden klassische Elemente aus Rock mit Drum Samples, Claps, Drum´n´Bass Grooves, R`N`B, Hip Hop-artigen Vocal-Samples und viel Elektronik gemixt.
Und doch hat man immer das Gefühl, dass hier der Song im Mittelpunkt steht und nicht nur ein Soundideal. Alles wirkt sehr natürlich und nicht verkrampft modern. Auf dem ganzen Album weiß man nie, was vielleicht als Nächstes kommt. Es gibt so viele Überraschungsmomente, dass man diese nach ein paar Songs fast schon erwartet. Des Rocs schafft es trotz der vielen Einflüsse die Gitarre als eines der tragenden Elemente einzusetzen und sie nicht nur als Klischee im Hintergrund zu nutzen. Zwischen Gitarrenwänden, die problemlos auch aus Songs einer Hardcore-Band kommen könnten, zu eingängigen und poppigen Strophen, einer Bridge die auf einem Billie Eilish Album nicht einmal auffallen würde und Queen-artigen Chorsätzen im Refrain liegen oft nur Sekunden.
Was in der Beschreibung absurd klingt, kommt trotzdem unglaublich natürlich daher („Why Why Why“). Des Rocs, der sich und seine Fans liebevoll als „Rats“ bezeichnet, nimmt einem Genre die Grenzen. Und er versteht Songs als die Spielwiese, die sie sein sollten.
„King Of Rats, Pioneer of Art, New York City Resident“
Des Rocs auf Twitter, 21.02.21
Jordan Edward Benjamin ist ein kanadisch-amerikanischer Künstler, der in seinem eigenwilligen Stil Rock, Trap, Hip Hop und Hardstyle mixt. Inhaltlich beschäftigt er sich hauptsächlich mit politischen Themen, mit persönlichen Selbstzweifeln und psychischen Problemen. Themen, die momentan gerade die jüngere Generation bewegen und offensichtlich den Zeitgeist und das Lebensgefühl vieler Menschen treffen.
Den ersten großen Erfolg hat er 2018 mit der Single „Blood // Water“. Hier trifft eine sehr poppige Melodie auf Trapbeats und eine Hook, die auch auf Hardstyle-Festivals Menschen vor die Bühne locken würde. Allerdings scheut er sich hier schon nicht vor fast gescreamten Vocals und einem präsenten Gitarrenriff im letzten Teil des Songs, der von seiner Energie fast nach einer sehr modernen Version von Rage Against The Machine klingt. Auf dem Debütalbum „The Death of an Optimist“ schafft Grandson sein Alter Ego „X“, dass seiner Person – die den Optimisten verkörpert – eine pessimistische dunkle Seite gegenübersteht. Das ist auch in der Bildsprache der Musikvideos sehr gut umgesetzt:
Er vermittelt ein Gefühl, dass viele momentan haben dürften. In einer Welt, in der es uns eigentlich so gut geht wie nie und es trotzdem so viel Leid in anderen Teilen der Welt, aber auch direkt vor der eigenen Tür gibt. „What you gonna do when theres blood in the water?“ (Blood//Water). Dem sehr dunklen und dystopischen Sound der Platte steht das tanzbare Dirty gegenüber, dass Nächstenliebe propagiert und ein vor Energie explodierender Song ohne Zeit zum Luftholen ist. („Do You Have Enough love in your heart? Common and get your hands dirty“). Nicht alles in seiner Discographie ist so mitreißend wie die beschriebenen Songs, aber das bleibt am Ende ja auch Geschmacksache.
Cleopatrick sind ein Rock-Duo aus Kanada. Das Debütalbum „Bummer“ erschien 2021 und überzeugt gerade Fans von härterer und moderner Rockmusik, die ohne Anleihen aus dem Metal auskommt. Nachdem dem Duo mit den ersten zwei EPs ein sehr erfolgreicher Start gelang, war das Album von vielen Fans lange herbeigesehnt. Die ganze Platte strotzt nur so vor Energie und ist wirklich mitreißend. Man hört den Songs die Limitierung auf zwei Instrumente deutlich an.
Der Fokus liegt hier mehr auf dem Groove, dem Gesang und lässt dem Schlagzeug mehr Platz als in größeren Besetzungen. An den Arrangements der Songs ist nicht viel dran. Ein bis zwei einfache Riffs, die zum Ende hin gerne mal völlig explodieren, ein sich für den Song aufopfernder Sänger und wilde Drums, die sich selbst vor einem Dave Grohl zu Zeiten von Nirvana nicht verstecken müssen. Diese Reduzierung ist eine willkommene Abwechslung zu vielen anderen Vertretern des Genres, wo die Produktionen und Arrangements immer größer, komplexer und Detailreicher werden.
Auch bei der Produktion wurden keine Gefangenen gemacht. Das Schlagzeug ist oft dermaßen übersteuert, dass es heutzutage, wo man in Rock und Pop sehr saubere und oft auch elektronische Drums gewohnt ist, erst einmal etwas gewöhnungsbedürftig ist. Man erkennt aber nach ein paar Songs eine klare Idee dahinter. Und man hat sofort vor dem inneren Auge, wie diese Band in kleinen, mit Schweiß von der Decke tropfenden Clubs eins mit dem Publikum wird. Auch die Gitarren sind meistens bis an die Grenze verzerrt und reißen einen mit maximal übersteuerten, aber sehr modernen Fuzz Sounds aus dem Tagtraum der Hörgewohnheit heraus. Den Hip Hop Einfluss, den man auf den ersten Blick so gar nicht erwarten würde, hört man gerade dem Gesang und den Schlagzeug-Grooves phasenweise an. So kann moderne Rockmusik funktionieren.
Auch lässt die Band die DIY-Mentalität, die einst im Punk Rock entstand, wieder aufleben. Das Album wurde über das selbst gegründete Label veröffentlicht und in dem Kollektiv „New Rock Mafia“ verbreitet. Das Kollektiv besteht aus Bands und Fans, die sich gegenseitig unterstützen und über die verschiedenen Kanäle ihre Musik und eine Gemeinschaft propagieren. Immer wieder gibt es zB “geheime” Livestreams der Bands, nur für dieses Kollektiv. Insgesamt schafft es die Band, mit einer Mischung aus Grunge, Noise Rock und Punk einen neuen Sound mit eigentlich relativ klassischen Mitteln zu erschaffen.
Eine Künstlerin, die erste Anzeichen für die Rückkehr der Gitarren und des Rock Refrains im Mainstream erkennen lässt, ist Olivia Rodrigo. Vorweg sei gesagt, dass das Album insgesamt an den meisten Stellen sehr weit von modernem Rock entfernt ist. Dass ausgerechnet ein Rock-beeinflusster Song einer der größten Hits der jungen Künstlerin geworden ist, die bis hierhin vor allen Dingen durch ihre Rolle in dem Serienableger von Highschool Musical bekannt war, spricht doch Bände.
Die Rede ist von „Good 4 you“. Der Song ist ein super Beispiel dafür, wie sich Rock-Musik wieder in die Herzen der vor allen Dingen von Pop und Hip Hop sozialisierten nachkommenden Generation spielen kann. Eröffnet mit einem Bass-Riff und modernen Chor-Einwürfen startet die Strophe mit einem Beat, der sehr Hip Hop beeinflusst ist. Begleitet von einer Melodie, die aus vier Tönen besteht und vor allen Dingen durch ihren – auch dem Hip Hop entliehenen – Flow besticht.
In der zweiten Hälfte deutet sich dann durch die hintergründige Achtel-Gitarre der überraschende Pop Punk-Chorus an. In diesem mündet das Ganze dann mit einer Menge Energie und bedient sich dem neuen (alten) Trend des Highschool-Punks. Hier verschwimmen Genregrenzen – und das funktioniert alles sehr organisch und wirkt nicht konstruiert. Auch lyrisch ist das bereits von allen Seiten beleuchtete Thema einer Trennung hier sehr schön verpackt. Man kann gespannt sein, ob sie auf kommenden Veröffentlichungen moderner Rockmusik mehr Platz einräumt – es wäre auf jeden Fall wünschenswert.
Weitere Künstler*innen, die man sich mal anhören kann, wenn es wieder heißt Rock sei tot, sind Blood Red Shoes, Wolf Alice, Highly Suspect, Dead Poet Society, Foals und Nothing But Thieves. Die meisten von denen sind längst keine Newcomer mehr, schaffen es aber doch immer wieder neue innovative Impulse zu setzen.
Ihr seid auch Fans von Rock-Musik und wollt selber Songs schreiben und aufnehmen? Dann schaut euch doch mal hier bei mukken um, vielleicht findet ihr dort ja Bandmitglieder oder Produzent*innen, um eure ganz eigene Version von modernem Rock zu erschaffen. Weitere Features und Blogbeiträge zu tollen Künstler*innen findet ihr hier auf unserem Blog.
Ursprünglich veröffentlicht am 19. März 2022 aktualisiert am 19. Oktober 2022
Fokusthema: Belting – eine Gesangstechnik mit zwei Medaillen-Seiten