Kalandra – mystische Klänge aus dem hohen Norden
Neuer Beitrag
Das Genre des Country ist ebenso wie die weite westamerikanische Prärie, dessen Atmosphäre unmissverständlich in der Musik verankert ist, ungeheuer groß und vielseitig, vom traditionellen Americana Country verwurzelt in Nashville, bis hin zum Outlaw Country, welcher sich bewusst vom verharmlosten Rest abkapselt und tragische, herzzerreißende und allen voran ehrliche Geständnisse in Musikform darbietet und völlig unverblümt das oftmals gesetzlose Leben dieser Regionen reflektiert. Johnny Cash war mit seiner rebellischen Art ein Vorreiter dieser Bewegung, Willie Nelson zählt unter anderen auch zu einem prominenten Vertreter des Genres.
Orville Peck ist anno 2022 der wohl größte und allen voran geheimnisvollste Vertreter des Outlaw Country, mit gerade einmal zwei vollständigen Langspielern und einer EP, sowie komplett eigenständigen Coverversionen ikonischer Lieder wie „Smalltown Boy“ von Bronski Beat und „Born This Way“ von Lady Gaga im Gepäck galoppiert der verwegene Cowboy mit Maske an die Spitze der US-Amerikanischen Kritikerherzen, sogar in Soundtracks von Filmen und Serien ist er mittlerweile angekommen.
Die besagte Maske ist das charakteristischste Merkmal von Orville Peck neben seiner inbrünstigen und kommandierenden Stimme, ein ungestümer Misch aus Bankräubermaske und Fetischgegenstand, welches in Anbetracht dieser Kunstfigur durchaus Sinn macht, denn Orville Peck ist ein Botschafter der LGBTQ+ Community, der sein Schwulsein offen und mit einer nie zuvor gehörten Leichtigkeit in sein künstlerisches Schaffen einbezieht.
Gerade seine sexuelle Orientierung macht ihm zu einem Rebell innerhalb einer Musikkultur, die von patriarchalen Idealen über Jahrzehnte geleitet wurde und ein Bild von einem heteronormativen Mannsein erschuf, welches er mit seinem ungestümen Talent anprangert, gerade mithilfe der szeneeigenen Symboliken und Gesten, was einen raffinierten Schachzug seitens von Orville Peck beweist, dessen Kunstfigur durch und durch mit einem Plan in der Hinterhand zu agieren scheint, um die Welt des Country bei den Hörnern zu packen. Eine hochaktuelle Thematik und Sensibilität, welche sich wie ein roter Faden durch sein Schaffen zieht, doch wer ist der Mann hinter der Maske?
Wer hinter den intensiv leuchtenden Augen steckt ist bisher nicht bekannt und soll auch so bleiben. Bekannt ist nur, dass er Kanadier ist, welcher in Südafrika seine Kindheit und Jugend verbrachte und in seiner Vergangenheit in einigen Punk Bands als Schlagzeuger auf die Trommeln hämmerte, bevor er sich musikalisch neu erfand und die Figur des Orville Peck kreierte. Das Mysterium um seine anhaltende Anonymität trägt dazu bei, ihn als modernes Sprachrohr des Outlaw Country zu etablieren und innerhalb des Genres eine Menge Staub aufzuwirbeln.
Seine melancholischen Balladen über unerfüllte gleichgeschlechtliche Liebe in einem Neo – Western Setting gehen genauso tief unter die Haut wie seine schnelleren Nummern über das grenzenlose Leben außerhalb jeglicher Autorität, die mit enormem Elan vorgetragen werden. Die Stimme hinter der Maske ist das entscheidende Etwas, welche das gesamte Konstrukt behände durch unterschiedliche Klangpaletten trägt, von Shoegaze inspirierten Introspektiven wie „Dead Of Night“ zu krachenden Country-Hymnen wie „Legends Never Die“, für die sich niemand geringeres als Shania Twain als Ko – Konspirateur auf seine Seite stellt.
Trotz seines sehr begrenzten Musikkataloges hat sich Orville Peck seit 2019 mit dem Erscheinen seines ersten Opus „Pony“ vom internen Geheimtipp innerhalb von lediglich drei Jahren zu einem absoluten Superstar in den USA gemausert, wie konnte das so schnell geschehen? Seine zutiefst berührende Stimme mit bemerkenswertem Stimmumfang ist ein offensichtlicher Grund im Lande des Kings, da eine gewisse stimmliche Parallele zu Elvis nicht von der Hand zu weisen ist, jedoch brilliert die Stimme auch ohne Vergleiche zu ziehen komplett unabhängig, wie es sich für einen echten Outlaw gebührt.
Ein anderer Aspekt stellt seine künstlerische Vision dar, von der Kostümierung bis hin zur Inszenierung sämtlicher Musikvideos und ein tiefsitzender Respekt gegenüber dem Country Lifestyle spielen durchaus eine Rolle im rasenden Erfolg des queeren Outlaws. Seine Handschrift weist auf einen unverkennbaren Sinn für Ästhetik hin, mit Dutzenden von verschiedenen Variationen seines einzigartigen Erscheinungsbildes mit eloquenter Detailverliebtheit, die vor allen in der Plethora seiner Musikvideos vollständig zur Geltung kommt.
Direkt mit dem ersten Video für „Dead of Night“ von seinem Debüt präsentiert sich Orville Peck selbstsicher wie ein Rodeo – Champion mit einer düsteren Grundstimmung, welche im Verlauf des Videos durch ein buntes Gemisch schillernder Persönlichkeiten an einen experimentellen Neo – Western denken lässt, derart stark blenden die Neon – durchnässten Farbpaletten, ein Motiv, welches durch die breite Masse seiner bisher produzierten Videos scheint, wie etwa jüngst für eine der Singles aus dem aktuellen Album „Bronco“ „C´mon Baby, Cry“ .
Stilvolle und exzellente Aufnahmen heben allein auf einem technischen Level jedes einzelne seiner produzierten Videos von der Mehrzahl der durchschnittlichen Interpreten und Interpretinnen der Country Welt ab, und die erstklassigen Bilder porträtieren eine Welt, die aus den Fugen geraten ist und von einem Sammelsurium exzentrischer und schräger Charaktere beheimatet wird. Nicht zu vergessen ist sicherlich die große Weite des amerikanischen Westens, welche mit Peck´s Elegien ein ergreifendes musikalisches Denkmal gesetzt bekommt und Cowboys wieder geheimnisvoll und vor allem cool in Szene setzt.
Die Entwicklung von Orville Peck als Künstler innerhalb von drei Jahren ist äußerst rapide, ein gewisser Reifungsprozess ist von „Pony“ bis „Bronco“ zu hören, was eine Ansage offenbart, da Bronco der Name für ein halbwildes Pferd ist, die Evolution geschieht vollkommen bewusst, dennoch bleibt er sich, seinem Stil und seiner Botschaft stets treu. In seiner Stimme hallt eine unheimliche Melancholie wider, welche aufgrund des Faktes, dass Peck einfach ein schwuler Mann inmitten einer Welt von überbordender Homophobie, inner – und außerhalb des Country, ist und einfach aufgrund dessen viel Schmerz und Leid erfahren musste, eine Erfahrung, die viele Angehörige von LGBTQ+ vereint und zu der authentischen Art und Weise von Peck´s Musik beiträgt. Anstatt plakativ mit diesen sensiblen Inhalten umzugehen, gelingt es Orville Peck meisterhaft, diese in die DNA seiner Musik zu verweben und reitet damit feinfühlig an jeglichen Klischees vorbei und kreiert somit eine Figur, der es an kultureller Relevanz, ironischen Untertönen als auch heimsuchender Musikalität nicht mangelt.
Obwohl Orville Peck dringend nötige neue Akzente mit seinem Charisma und Wiedererkennungswert innerhalb der traditionsreichen Country Kultur setzt, darf die Rolle und der Einfluss, welche der Country über populäre Musik einnimmt und ausübt, nicht außer Acht gelassen werden. Viele verschreien das gesamte Genre als Produkt von Hinterwäldlern, welche sich kaum an gesellschaftlicher Progressivität beteiligen können oder wollen, und eher für Regression zu stehen scheint.
Mitnichten ist das der Fall, denn allein Johnny Cash gilt als einer der wichtigsten und einflussreichsten Künstler des Country und als Wegbereiter der Entwicklung des Rock´n´Roll, und die Popkultur ist randvoll gefüllt mit einer Myriade von diversen Johnny Cash Produkten. Generell ist die Musikrichtung bekannt dafür, brutal ehrlich von der Seele zu singen und keine falsche Scham an den Tag zu legen, während vergleichsweise die deutsche Schlagerkultur den Eindruck vermittelt, als ob alles gestellt fröhlich daherkommt, selbst eigentlich melancholisch anmutende Stücke klingen verzerrt jovial. Ehrlichkeit ist eine ungemeine Komponente für das Erfolgsrezept eines jeden Künstlers.
Genau mit dieser Einstellung zur Ehrlichkeit im Blick behaltend funktioniert die Musik, die Orville Peck uns darbietet, nahtlos. Von der größtenteils depressiven Grundstimmung auf „Pony“, nur gelegentlich durch flotte, tanzbare Nummern aufgelockert doch im lyrischen Kern düster bleibend, zu dem gewaltigen „Bronco“, welches sich mit noch mehr Einflüssen zu einem sehr reifen Gesamtwerk entwickelt und die Reise des einsamen Desperados logisch und konsequent weiterspinnt. Beide Alben, die EP von 2020 namens „Show Pony“ miteingeschlossen, bieten abwechslungsreiche Abenteuer für die Ohren und geben kein schwaches Glied preis; jedes einzelne Lied hat mindestens eine besondere Qualität an sich und scheint mit viel Bedacht und Liebe zum Detail präpariert worden zu sein. Für Country Muffel und bereits eingefleischte Hörer und Hörerinnen ist Orville Peck eine unbedingte Hörempfehlung, das ist der Stoff, aus dem wirklich großartige Kunst gemacht wird.
Hat euch dieses Künstlerprofil gefallen und ihr habt Lust auf mehr bekommen? Dann seid ihr hier bei mukken goldrichtig, denn hier ist ein lebendiger Blog, der sich mit vielen kreativen Köpfen vollkommen der gemeinsamen Passion namens Musik verschrieben hat. Hier findet sich eine enorme Vielfalt von verschiedenen Themen rund um Musik, wie etwa weitere Künstlerprofile, zum Beispiel ein Ausflug in die Welt des Death Metal mit Immolation, oder Features über Filme und Büchern aus der Musikwelt. Hadert nicht lange, schwingt euch in eure Sättel und reitet zusammen mit mukken in den weiten Horizont der Musik!
Ursprünglich veröffentlicht am 24. Mai 2022 aktualisiert am 21. September 2022