Kalandra – mystische Klänge aus dem hohen Norden
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Im Nordwesten Englands, unweit der bedeutenden Industriestadt Newcastle upon Tyne, lebt eine Bevölkerungsgruppe inmitten der britischen Gesellschaft, welche durch den in dieser Umgebung vorherrschenden Dialekt des Englischen den Namen "Geordie" trägt. Als “Geordies” bezeichnet man offiziell die Angehörigen beziehungsweise den Dialekt der Menschen rund um Newcastle. Die Küstenstadt North Shields ist das Zuhause vieler Geordies. So auch von einem blassen blonden jungen Mann namens Samuel Thomas Fender (Sam Fender). Der 27-jährige Brite ist der Rock-Überflieger der letzten Jahre, als Songwriter und Musiker so mitreißend und groß und womöglich eine der wichtigsten Erscheinungen der populären Gegenwartskultur.
"Ich bin in einem Ort aufgewachsen, wo es viele Kinder von Familien ohne Job gab, die dann ebenfalls nicht gearbeitet haben. Es geht viel um Angst, wenn du in einer Stadt wie dieser aufwächst – Angst, nichts aus dir zu machen. Ich wollte dort nicht verharren. Ich habe meine Schule versaut, weil ich zu beschäftigt damit war, ein Idiot zu sein und Gitarre zu spielen und habe dann jahrelang in einem Pub gearbeitet. Es sah alles schwer danach aus, dass ich hier für immer bleiben würde."
Niemand kann es sich aussuchen, in welche Welt er oder sie hineingeboren wird. Aber wir alle können uns entscheiden, wohin wir von dort aus gehen, um es mit den Worten einer romantischen Erzählung zu formulieren. Dass die Lebensrealität weitaus komplexeren Umständen entspricht als diese formelhafte Redewendung die echte Wirklichkeit. Aber genau mit diesem eindimensionalen Narrativ kann die Musik wie nichts anderes so pointiert auftreten. Auf das Leben aufmerksam machen und die Menschen bewegen, emotionale Zustände auslösen, die nicht einmal die Wissenschaft bis heute erklären kann. Lauscht man der Eindringlichkeit des schmächtigen Sonnyboys von der Nordseeküste mit seinem ruppigen Geordie-Slang, schmeichelnden Melodien und heulend-schöner Stimme, eröffnet sich dem Hörer eine Gefühls-bestimmte Verfassung, die man nicht mehr vergisst. Kurzum: Man wird zum Fan. Natürlich geht es um Musik, aber eigentlich wird hier die Geschichte erzählt vom Kampf, der sich Leben nennt und den Künstler größer macht als seine Songs.
Musiker*innen oder generell Kunst sind immer ein Resultat derer eigener Lebensrealität. So auch Sam Fenders. Als Songwriter begreift er die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Ungleichheiten Englands und der Welt. Die Last seiner Generation. Der junge Sam schärft schon im jugendlichen Alter sein Auge für Minderheiten und verarbeitet seine Eindrücke und Gefühle im Songwriting und Gitarrenspiel. Er schafft es in seiner Musik die Kluft zwischen Brit-Rock-Schwärmerei und Geordie-Realität zu vermessen und tut dies niemals aus einem politischen Verlangen heraus. Es ist eine soziale Tonart, welche die Gräben nicht verschweigt. Die seine eigenen Dämonen und Schatten der Vergangenheit thematisiert. Er ist der Volkssänger der britischen Working Class, Geschichtenerzähler der Gen-Z.
Mit seiner Debüt-EP Dead Boys und dem erstem Studioalbum Hypersonic Missiles erscheint das Bewusstsein über den Missstand innerhalb der britischen Gesellschaft ein Stück weit erträglicher und klarer. Eine Reise mit Sam durch den kleinbürgerlichen Mief Nordenglands. Eine bittere Abrechnung mit England, dem Niedergang eines Landes. Zugegebenermaßen drastische Parolen, die Hoffnung machen. Hoffnung durch seine Wortgewalt und musikalischem Verständnis. Hymnen für das Außenseitertum. Songs für Underdogs. Identität, Zugehörigkeit, Benachteiligung – das wurde schon immer in der Rockmusik verhandelt. Dinge, welche die Gefühle befeuern, wie es ist, im proletarisch-provinziellen Milieu aufzuwachsen. Songs über die Schattenseiten des Lebens. Über Drogenabstürze und Suizid in der Jugend. Hinfallen, Aufstehen und weitermachen. Die Musik als Ausweg aus dieser Dunkelheit. Als Triebkraft etwas Bedeutsames zu schaffen, gespeist aus den Erfahrungen, die er und sein Umfeld aus der Working Class machten. Songs, welche diese Gefühle und Umstände spiegeln. Sie zum wertvollen Gut machen, mit einer musikalischen Schönheit versehen, die entzückt.
Sam Fender macht all das erlebbar. Die Musik ist sein Ausweg aus dieser lähmenden Misere, dem Desaster was man Leben nennt. Wie ein jaulender einsamer Wolf wehrt er sich völlig ohne Selbstmitleid gegen einen Weg, den er nie wollte. Mit anmutiger, verletzlicher Stimme rockt er sich mit seinem ganz eigenen Hybrid aus The Strokes, Jeff Buckley oder Bruce Springsteen – welche er auch als Inspirationsquellen nennt und unüberhörbar in seiner Musik verankert – an die Spitze der Charts. Von Kritikern gefeiert und von den Fans geliebt.
Mit kalten Enthüllungen und einem warmen Herz gibt Sam Fender Antworten auf seine eigene Entfremdung. Auf seinen Kummer, die fürchterliche Existenzangst vieler Geordies und jungen Briten*innen. Er besingt die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aller beladenen Seelen auf der Suche nach Erlösung. Die Erzählungen von Männern wie Sam Fender sind Vorbilder. Sie werden zu diesen, weil sie Geschichten erzählen, die nichts anderes sind als das wahre Leben selbst. Keine generisch-inhaltslose Popmusik ohne festen Boden, sondern echte Rockmusik, die es dieser Tage nur noch viel zu selten gibt. All das macht Sam Fender zu einem der wichtigsten Musiker unserer Zeit und vor allem Hoffnungsträger einer zutiefst gespaltenen und orientierungslosen Generation.
Am 08. Oktober 2021 erscheint sein zweites Studioalbum Seventeen Going Under.
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Ursprünglich veröffentlicht am 7. September 2021 aktualisiert am 5. Oktober 2022
Fokusthema: Der Schmyt - Underdog, Newcomer und Ausnahmetalent