Kalandra – mystische Klänge aus dem hohen Norden
Neuer Beitrag
Vergessen, unterschätzt, missverstanden: Das US-amerikanische Rock-Quintett The Shins aus Portland, Oregon, ist in vielen Teilen des Diesseits völlig unbekannt. Obwohl jede*r schon einmal Fragmente ihrer Musik gehört hat, erfassen viele Bewertungen und Einordnungen die Bedeutung einer solchen Indie-Rock-Erzählung wie die der Band The Shins nicht. Dabei wirkt ihr Zusammenspiel bis heute – in der Musik anderer.
Viele Meinungen und zufällige Beobachtungen über die Shins offenbarten eine Art von engstirniger Betrachtung ihres Wirkens. Diese reiht sich bis heute in eine lange Tradition kurzsichtiger Verhandlungen von Kulturschiedsrichtern in der Musik ein. Die Gruppe um James Mercer wurde von Beginn an und bis heute zu einem überhypten Indie-Rock-Klischee erklärt. Doch das wird der kulturellen und historischen Bedeutung der Band nicht gerecht. Die populäre Musikkritik hat es versäumt, die Shins in einen größeren Kontext der Musikgeschichte zu stellen, um so die Bedeutung der Band ein für alle Mal zu erfassen. Mercer und die Shins verdienen Anerkennung für ihr Schaffen. Das ist jedoch nie wirklich passiert.
Bei näherer Betrachtung enthüllt die Vergangenheit vieles. Der Begriff Indie-Rock ist ein ziemlich ungenauer Begriff, welcher das Genre nur sehr breit erfasst. In erster Linie bedeutete Indie immer, wie wichtig es ist, die künstlerische Kontrolle über seine Musik zu behalten. In seinen Anfängen in den 1980er-Jahren umfasste das Genre bei vielen bahnbrechenden und unabhängigen Plattenlabels verschiedenste Auffassungen von dissonanten und melodischen Klängen. Indie-Rock zu dieser Zeit war lange nicht das, was heute unter preisgekrönten Genrevertretern wie den Arctic Monkeys, The Strokes oder anderen bekannt ist. Bands wie diesen wohnte eine Innovation inne, welche die Shins mit ihrem Erstling leise, aber subtil schlussendlich etablierten.
Der damalige Indie-Rock entwickelte sich gleichermaßen dynamisch in den Vereinigten Staaten sowie dem Vereinigten Königreich zu zwei völlig unterschiedlichen musikalischen Perspektiven. Auf der einen Seite des Atlantiks war es das aus den tiefen Häuserschluchten New Yorks empor kommende emotionale Geschrammel von Sonic Youth. Auf der anderen eine expressive Melancholie roter Backsteinhäuser der kalten und nassen Straßen Manchesters. Das machte beide Bands zu Torwächtern des Genres und beeinflusste alles in den 1980er- sowie 1990er-Jahren und was da noch kam. So auch die Shins.
Die Innovation der Shins bestand darin, Indie-Rock leise in Richtung Melodie zu führen und so das bis zu dem damaligen Zeitpunkt oft verschlossene Genre in Form von ansprechenden und hübschen Popsongs zu öffnen. Eine Chance, mit Melodien das Genre neu zu definieren und in eine neue Ära zu führen. Eine romantische Indie-Rock-Erzählung, welche sich bei oberflächlicher Betrachtung der Band so vermuten lässt. Aber genau bei einer solchen engen umschriebenen Auffassung liegt das Versäumnis, dass die Kritik den Shins ihre historische und gesellschaftliche Bedeutung verkennt. Denn hier werden sie einfach nur zu einer weiteren Indie-Rock-Band erklärt, welche es sich zu eigen machte, die Melodie zu betonen, um so für niedliche Lagerfeuer-Momente zu sorgen. Ein hervorragendes Beispiel von Musikkritik, die dazu neigt, die Perspektiven von Fans und Beobachtern zu verkleinern. Dadurch verliert die Musik immer etwas von ihrer Bedeutung. The Shins sind nicht als Lagerfeuer-Leitkultur zu verorten. Sie sind ehrgeizige Musiker, welche sich als eine der wichtigsten Bands des neuen Jahrtausends etablierte und für immer großes bewirkte.
The Shins navigierten zuvor beschriebene Indie-Rock-Wirkungsstätten und vereinten die amerikanischen und britischen Stilrichtungen. So wurden mit ihrer Musik verschiedenste gegenkulturelle Musikszenen eins. Mercers Texte beschreiben Themen wie Schicksal, Konformität, Authentizität und eine Welt voller philosophischem und wirtschaftlichem Blödsinn. Ein Porträt individueller Ängste, Fragen über die Natur des Menschen und den freien Willen in der modernen Welt. Die Komplexität des Lebens lyrisch verpackt in einem Sound von unkonventionellen und präzisen Melodien. Allem voran die Lebensgeschichte von James Mercer befähigt die Band ein solches Verständnis für das Leben in ihrer Musik darzubieten; die Perspektive eines kultivierten und klugen Außenseiters, der sich bemüht anzupassen und so die Zerrissenheit der eigenen Existenz verarbeitet. Ein Resultat einer so komplizierten Geschichte, die sich Leben nennt.
Die Shins waren nie die so reduktiv unbescheidene Indie-Pop-Band, zu der sie erklärt wurden. Mit ihren abwechslungsreichen Arrangements und ernsthaften Themen muss klar sein, dass The Shins Ambitionen über die des stereotypischen Indie-Ethos hinaus gehen. In vielerlei Hinsicht sind sie leidenschaftliche Kuratoren von anspruchsvoller Popmusik mit dem Versuch, zeitlose und einzigartige Rockmusik zu kreieren.
Um die Bedeutung der Shins zu begreifen, welche zweifellos durch genreorientierte Analysen bis heute falsch eingeschätzt wurden, müssen Klischees typischer genreübergreifender Musikkritik neu gedacht werden. Kritiken dieser Art misstrauen nicht nur dem künstlerischen Ehrgeiz einer Band oder eines Musikers. Sie deuten auch daraufhin, dass Genres und in diesem Falle Indie-Rock einzig und allein selbstsüchtigen und privilegierten Beobachtern Relevanz zuspricht.
Die Musik von James Mercer und The Shins zeigt, dass aus Welten abseits der heute und damaligen gesellschaftlich bedeutsamen Musikrichtungen überzeugende gegenkulturelle Kunst entstehen kann. Mit ihren außergewöhnlichen Songs bieten sie den Hörer*innen ausgeklügelte, einfühlsame Beobachtungen des modernen Lebens. Und das gestaltet als eine wunderschöne, komplizierte und melodische Pop-Alternative, die The Shins zu einer einzigartigen, bescheidenen formalistischen Indie-Pop-Band populärer Kultur macht. Für immer mehr als nur ein Rock-’n’-Roll-Klischee.
Übrigens: Wenn du Lust hast, dich mit anderen Musiker*innen über Bands wie The Shins auszutauschen oder einfach deine Meinung loswerden möchtest, schau doch mal auf der mukken Community-Seite, unserem eigenen kleinen Social Network vorbei!
Wenn du dir lieber weiter unsere Features durchlesen möchtest, geht es hier zu einem Feature zu LEA. Und hier kannst du etwas zu Schmyt lesen.
Ursprünglich veröffentlicht am 19. Oktober 2021 aktualisiert am 19. Oktober 2022