Kalandra – mystische Klänge aus dem hohen Norden
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Authentizität ist das wohl namhafteste Kriterium zur Beurteilung der Qualität einer filmischen Dokumentation. Im Falle von der Doku Until The Light Takes Us, von Aaron Aites und Audrey Ewell konzipiert, welche sich mit der turbulenten Anfangszeit des norwegischen Black Metal auseinandersetzt, mit besonderem Augenmerk auf die wirklichen Akteure hinter den Taten und ihre morbiden Gedankenwelten, ist die Authentizität ganz groß auf die Fahne geschrieben.
Für manche Menschen vielleicht gar zu authentisch, denn hier wird vor keinem sensiblen Thema in Zusammenhang mit Suizid, Mord, Rassismus oder Homophobie haltgemacht, daher sollte man sich ganz bewusst sein, auf was für ein audiovisuelles Ereignis man sich mit Until The Light Takes Us einlässt.
Leichte Kost ist etwas anderes, dennoch ist der Film eine regelrechte Empfehlung für alle diejenigen, die sich für härtere Musik begeistern können und vor allem den extremen Unterarten nicht abgeneigt sind; für andere könnte die depressive, grimmige Grundstimmung und die expliziten Inhalte, insbesondere in Bezug auf Selbstverstümmelung und Suizid abschreckend wirken. Doch wer grundsätzlich Interesse an Musikgeschichte hat, der wird auch etwas mit diesem düsteren, teils gruseligen Stück Zeitgeschichte auf seine oder ihre Kosten kommen.
Was direkt bei der Sichtung von Until The Light Takes Us auffällt, ist der facettenreiche Soundtrack, der nicht nur, wie man anfangs vermuten könnte, reinen norwegischen Black Metal laufen lässt, sondern ganz besonders elektronische Klangwelten offenbart, die mit der Atmosphäre einhergehen.
Die Atmosphäre ist möglicherweise sogar noch wichtiger bei Until The Light Takes Us als die Authentizität, welche in allen Belangen, in allen Musikrichtungen, ständig hinterfragt werden kann und darf. Atmosphäre ist ein fundamentales Rädchen im Black Metal Getriebe. Die Aggression des Thrash Metal und die morbide Ader des Death Metal kulminieren zusammengesetzt mit ebenjener Atmosphäre zum traditionellen Sound des Black Metal.
Der Titel der Doku rührt von einem Album einer der Schlüsselfiguren des frühen norwegischen Black Metal her: Varg Vikernes von Burzum, mit dem Album Hvis Lyset Tar Oss, aus dessen englische Übersetzung sich der Titel für die Dokumentation herleitet. Dies ist ein entscheidendes Unterscheidungsmerkmal zu anderen Dokumentationen über dieselbe Thematik: Until The Light Takes Us liefert einen nüchternen und reifen Blick auf Gylve „Fenriz“ Nagell und Vark Vikernes, den Protagonisten dieser Doku mit einem besonderen Augenmerk auf die Art und Weise, inwiefern Black Metal Kunst an sich weiterentwickelt hat.
Eine schwermütige Melancholie zieht sich über die gesamte Lauflänge des Musikdoku, der Titel selbst verströmt bereits eine gewisse existenzielle Schwere. Diese Melancholie wird effektiv in Szene gesetzt durch den oftmals wundersamen Soundtrack, der untypisch für das Thema der Dokumentation nicht nur aus Sounds aus ebenjener berüchtigten Musikszene besteht, sondern andere Genres wie Electronica mit einspannt.
Gerade der schaurig schöne Introtrack von Mum artikuliert die innewohnende Melancholie und Isolation der Protagonisten ausführend, ganz ohne eine einzige verzerrte Gitarre, ohne Barragen von Blastbeats und ohne den unmenschlich anmutenden Gesang, welche übliche Charakteristiken des Black Metal darstellen. Der Fokus von Until The Light Takes Us liegt bei den beiden Bands Burzum und Darkthrone, welche zu den Bands der ersten Stunde der norwegischen Szene zählen und deren Bandleader als Erzähler durch die Doku führen.
Während Fenriz von Darkthrone den Großteil der Doku narrativ untermalt, bekommt Varg Vikernes ebenfalls einen erheblichen Anteil an Sendezeit. Außer dieser beiden Herrschaften kommen noch ehemalige Mayhem Mitglieder zu Wort, und ein paar weitere Namen der Szene, doch Hauptaugenmerk bleiben Fenriz und Vikernes.
Vor der Kamera plaudern die beiden offen aus dem Nähkästchen über ihre jeweiligen Ansichten, Motivationen und Vorstellungen, was norwegischen Black Metal definiert.
Ihre Gemüter könnten unterschiedlicher nicht sein: Während Fenriz einem Klassenclown gleicht, der mit einer ansteckenden Euphorie über seine Liebe zur Musik in seinem Wohnzimmer schwadroniert, so überaus emotional kalt und nüchtern betrachtet der zu den Dreharbeiten inhaftierte Mörder und Brandstifter Varg Vikernes seine Rolle im Sumpf des Verbrechens. Vikernes verlautbart, dass das satanische Image eine Hinzudichtung der Medien gewesen sei, er sähe sich persönlich als Heide, der gegen eine ideologische Entfremdung ankämpft.
Until The Light Takes Us verzichtet vollkommen auf einen von außen stammenden Erzählstrang und setzt stattdessen auf die Stimmen der Beteiligten. Das Publikum bekommt den Vertrauensvorschuss der Filmemacher und soll sich selbst die Geschichte zusammenreimen und ob es mit den Akteuren sympathisiert oder nicht.
Worauf die beiden sich letzten Endes einigen können ist, dass sie diese neuartige Ausprägung des extremen Metal als rebellischen Akt gegen die zu der Zeit sich immer weiter ausbreitende Amerikanisierung in Form von Fast-Food-Ketten und der in ihren Augen offenbaren Schwäche des US-Death Metals, da dieser Musikstil sich zu sehr kommerzialisierte.
Ob der Black Metal eine künstlerische Legitimation hat trotz der fürchterlichen anfänglichen Schaffensphase ist die grundlegende Fragestellung der beiden kanadischen Filmemacher.
Daher strotzt der Soundtrack nur so von Ambient - und Electronica Tracks, die eine ähnliche innere Finsternis ausströmen wie die Szene, die in Until The Light Takes Us beleuchtet wird. Menschliche Emotionen sind universell, und wir alle, egal wo wir uns auf dem Erdball befinden, haben einen Bezug zu der Düsternis, denn wo Licht ist, gibt es auch zunehmend Schatten.
Die Intention hinter der norwegischen Black Metal Szene war es zudem auch, die Qualität des auf Tape gebannten Materials so roh und unangenehm für die breite Masse wie möglich zu gestalten, denn die Rebellion sollte sich nicht nur in den Texten, sondern im gesamten Klangbild widerspiegeln, deswegen der Bruch mit den Konventionen des wohlklingenden Sounds.
Ästhetische Gewohnheiten sollten auch über Bord geworfen werden, genauso wie reguläre Songstrukturen, als bestes Beispiel gilt hier das Strophe – Bridge – Refrain Prinzip und stattdessen werden die Hörenden in einen atmosphärischen Sog gestoßen, aus dem es kein Entrinnen und schon gar keine Freude gibt.
Was anfangs noch reine Teenager Angst ausgedrückt in musikalischer Form zu sein schien, hat die anfängliche Sturm und Drang Zeit überdauert und sich als festes Genre im Metal Bereich etabliert, und das weltweit. Dutzende Bands aus allen Regionen der Erde wurden von den norwegischen Feuern inspiriert und tragen seitdem die spirituelle Flamme der Rebellion offen weiter.
Die Welle von schockierenden Verbrechen wir Kirchenverbrennungen, Mord an Homosexuellen und bandinterne Morde hat glücklicherweise nie mehr ein solches Hoch wie zu den Anfängen in Skandinavien erlebt und es wird sich nun auf die Musik konzentriert und nicht um irgendwelche Skandale.
Mittlerweile gibt es schon Ausstellungen um und mit Black Metal, wie beispielsweise vom US – Filmemacher Harmony Korine, der mit seinem Skript zu Kids in den frühen 90ern für Furore sorgte, und zugibt, großer Fan der dunklen Musikrichtung zu sein, so sehr, dass er ihr eine ganze Kunstausstellung gewidmet hat, die auch im Film zu sehen ist.
Im Film ist auch eine sehr verstörende Ausstellung mit einer blutigen Live-Performance integriert, doch abseits der Ausstellungen etablierte sich das Genre zu einer anspruchsvollen Kunstform, in der philosophische und existenzielle Thesen eindrucksvoll thematisiert werden, beispielsweise der Auftritt der norwegischen Band Satyricon, welche im Osloer Opernhaus mithilfe eines Chors Glanzstücke ihrer Diskografie darbietet.
Währenddessen verurteilt Fenriz die gewalttätigen Verbrechen von Varg Vikernes aufs Schärfste, gesteht ihm dennoch zu, dass sein musikalisches Schaffen in Form von Burzum absolut prägend für den Sound des wahren, norwegischen Black Metal war, es nur eine Schande sei, dass er zu tief in den Abgrund blickte.
Kurz wird auch in Until The Light Takes Us illustriert, was aus Vikernes nach seinem Mord an Mayhem Gründer Euronymous geschah: Inhaftierung, maximale Haftstrafe und Konvertierung zum nordisch geprägten Neo – Nazi. Kurzum ein verabscheuungswürdiger Mensch, dessen Kunst ihn als Person übersteigt und eine Paradebeispiel dafür, ob und wie Kunst und Künstler:Innen voneinander getrennt werden sollen.
Die allgegenwärtige Dunkelheit ist nicht vom norwegischen Black Metal auskommend, dennoch war es diese Musik, die sich den düsteren und hässlichen Aspekten des Lebens widmet und als Sprachrohr für unser aller innewohnenden Dunkelheit fungiert. Genau aus diesem Grund wird man sich an Black Metal erinnern.
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Ursprünglich veröffentlicht am 2. August 2022 aktualisiert am 19. Oktober 2022
Fokusthema: Bo Burnham: Inside – Eine dokumentarische Musikkomödie für unsere verwirrte Zeit